Tagungsbericht Heidelberg

Palais “Ach, wie schön ist Literatur!“

Bei strahlendem Sonnenschein und schönstem Spätsommerwetter trafen sich die Mitglieder und Freunde der GASL in den imposanten Räumlichkeiten des Palais Boisserée, dem Sitz des Germanistischen Seminars der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg zu ihrer 24. Jahrestagung.

Nach der Begrüßung durch Prof. Dr. Roland Reuß, dem Leiter des Institutes, startete pünktlich um 17 Uhr die offene Mitgliederversammlung der GASL. Routiniert wurden die Punkte der Tagungsordnung abgearbeitet und der Vorstand nach dem Bericht der Kassenprüfer von der Mitliederversammlung entlastet. Breiten Raum nahmen auch in diesem Jahr wieder die Berichte zum Stand der einzelnen Projekte der GASL ein. Hierbei wurde festgehalten, dass die sich bereits in Northeim abzeichnende positive Entwicklung der GASL verfestigt hat. Jahrbuch, Schriftenreihe und Schauerfeld sind planmäßig erschienen und ausgeliefert worden. Vor diesem Hintergrund äußerte sich Dietmar Noering betont optimistischer als in Northeim und sagte, „dass, wenn sich jetzt noch jüngere Menschen für eine Mitarbeit und Mitgliedschaft gewinnen lassen, ich mir keine Sorgen um die weitere Zukunft der GASL machen muss“. Eine lebhafte Diskussion entstand, wie dies bewerkstelligt werden kann.

Vielleicht ist die Verpflichtung eines so profunden Arnos Schmidt-Kenners, wie Klaus Theweleit auch ein Schritt in diese Richtung. Theweleit, dessen Bücher (z.B. Männerphantasien) weit über die Gemeinde der Arno Schmidt Leser hinaus bekannt sind, referierte unter dem Titel „you give me fever“ über den Schlüsseltext «Seelandschaft mit Pocahontas». Er zeigte, wie Schmidt in den frühen 50ziger Jahren einen in die Zukunft der jungen Bundesrepublik gerichteten «Sexualitätsplan» heraus arbeitet, den Entwurf für eine Post-Nazi-Gesellschaft, die Sexualität in lustvolle Erfüllung wendet. Theweleit zeigte, wie Schmidts «Seelandschaft» gegen die sich bereits abzeichnende Verlängerung der Nazigewalt in die Schlafzimmer Deutschlands angeht, wie Schmidts «sexuelles Besiedlungsvorhaben» das andere Besiedlungsvorhaben – neue Waffen, Remilitarisierung, die Gründung der Bundeswehr – vorausdenkt und konterkariert, und schließlich in den beiden Urlaubspaaren realisiert.

Weiterhin gab er zahllose Verweise auf Schmidts mehrschichtige Überschreibungen der Geschichte von der indianischen Häuptlingstochter Pocahontas, die aus Liebe den Kolonisator John Smith vom Tod errettet. Das alles hatte Fieber und bebte vor Energie, insbesondere als Theweleit bei der Zitierung eines Textes von Patti Smith seine nicht üble Gesangsstimme erhob und den entsprechenden Text a capella in den Saal schmetterte.

Der Abend endete bei „gutem Bier aus alter Kunst“, schmackhaften Essen und intensiven Gesprächen in der gastlichen „Kulturbrauerei Heidelberg“ (www.heidelberger-kulturbrauerei.de).

26. September – Samstag

Trotz der Menschenmassen, die zum 40. „Heidelberger Herbst” strömten, erreichten fast alle Teilnehmer den Tagungsort pünktlich zum ersten Vortag um 9 Uhr 30. Susanne Fischer ( Arno-Schmidt-Stiftung) berichtete zu den Arbeiten an der Edition von „Zettels Traum“. Sie veranschaulichte anhand von ausgesuchten Textstellen die immensen Schwierigkeiten der drei Editoren bei der Dechiffrierung des vorliegenden Typoskriptes . Nach ihrer Aussage sind die Satzarbeiten abgeschlossen, wobei zum Teil völlig neue Schrifttypen entwickelt werden mussten, um die von Arno Schmidt verwendeten Sonderzeichen und Abkürzungen kongenial abzubilden. Derzeit wird intensiv Korrektur gelesen und die letzten Qualitätschecks durchgeführt. Das Buch wird in der gesetzten Fassung wahrscheinlich ca. 1.500 Seiten haben. Auf Nachfrage hin erläuterte Frau Fischer, dass noch nicht geklärt ist, in welcher Form die Neuausgabe erscheinen wird. Sicher scheint nur, dass es aufgrund des Umfanges und Gewichts kaum als Einzelband im Rahmen der Bargfelder Ausgabe erscheinen kann. Realistisch erscheint hier eher eine zweibändige Ausgabe, eventuell mit einem Zusatzband mit editorischen Hinweisen. Angesprochen auf den voraussichtlichen Preis, konnte Frau Fischer noch keine genaueren Angaben machen. Sie informierte in diesem Zusammenhang aber, dass weiterhin der Plan besteht, für die Vorzugsausgabe eine einbändige Fassung zu erstellen, damit der Roman dem interessierten Leser auch tatsächlich als ein Buch vorliegt. Ob dies aber realisierbar ist, hängt sowohl von betriebswirtschaftlichen, als auch technischen Faktoren bei der Herstellung ab. Mit dem Erscheinen der Ausgabe wird nun Mitte bis Ende 2010 gerechnet.

Im Anschluss berichtete Dietmar Noering über die aktuellen Ergebnisse seiner Studien zu „Zettels Traum“. Sein diesjähriger Vortrag „Wilma. Mehr als sieben Todsünden“ beleuchtete detailliert das schwierige Verhältnis von Wilma Jacobi und ihrer Tochter Franziska im Zusammenspiel mit dem an partieller Impotenz leidenden Daniel Pagenstecher. Bei aller Kritik an der Handlungsweise der Mutter und ihrem teilweise unsäglichem Verhalten gegenüber ihrer Tochter, warb Noering bei den Teilnehmern auch um Verständnis für Wilma.

Nach seiner viel versprechenden Vortragspremiere auf der Jahrestagung in Trier informierte Matthias Schleifer aus Bamberg über Max Frisch und Arno Schmidt. Sein Referat „Walter der Andere“ warf Blitzlichter in die Entstehungsgeschichte und die Inhalte der Romane „Das steinerne Herz“ und „Homo faber“. Sein Vortrag fesselte durch die Stringenz seiner Ausführungen und die präzise Vortragsweise.

In der anschließenden Mittagspause nutzen die meisten Teilnehmer die kulinarischen Angebote der zahlreichen Marktstände des „Heidelberger Herbstes“. Frisch gestärkt wurde um 13 Uhr 30 der literarische Spaziergang unter der Leitung von Ulrich Schuch und Rudi Schweikert bei strahlendem Sonnenschein angetreten.

Eingerahmt wurde der Spaziergang von zwei Texten, welche mit ihrem individuellen Blick auf das Leben in Heidelberg stellvertretend für das 19. und 20. Jahrhundert stehen können. Für das 20. Jahrhundert sind es die Schilderungen Carl Zuckmayers aus seiner Studentenzeit in Heidelberg in den Jahren 1919 und 1920, wiedergegeben in seiner Autobiographie »Als wär’s ein Stück von mir«, aus der zu Beginn und unterwegs vorgelesen wurde. Für das 19. Jahrhundert wurden Teile aus Karl Immermanns »Reisejournal« seiner Reise von 1831 vorgelesen, zu der auch das »Heidelberger Schloßmärchen« gehört, dessen Lesung durch Rudi Schweikert den Spaziergang abschloß.

Der anschließende Abend wurde im Gasthaus “Zum Roten Ochsen” einem der ältesten und traditionsreichsten Studentenlokale von Heidelberg verbracht. In historischem Ambiente, untermalt vom mörderisch aufspielenden “Mann am Klavier” und Männergesangsvereinen der Umgebung, wurde die gutbürgerliche Küche bei Heidelberger Pils oder einem Schoppen Wein goutiert. Auch wenn noch einige Teilnehmer der Tagung sich später in das Getümmel des „Heidelberger Herbstes“ stürzten, können wir verbürgen, dass sie nicht für die in der Rhein-Neckar-Zeitung vermeldeten „Schlägereien, die aber alle glimpflich abliefen“ verantwortlich waren.

27. September – Sonntag

Hendrike Witt aus Osnabrück, die Redakteurin des Schauerfelds, übernahm an diesem Morgen die schwierige Aufgabe des „Eisbrechers“. Ihr Thema war der Grafiker und Maler A. Paul Weber. Anhand von 12 ausgesuchten Bilder und Zeichnungen aus seinem Gesamtwerk stellte sie diesen als den idealen Illustrator für Arno Schmidts Leviathan vor und gab nebenbei einen Einblick in das Leben von Weber. Eine Betrachtung, die nicht ohne Widerspruch blieb und eine der spannendsten und interessanten Diskussionen auf einer GASL-Tagung seit Jahren provozierte. Ulrich Schuch verwies auf das widerspruchsvolle politische Engagement des Künstlers in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und seine gut dotierten Brotarbeiten während des Hitler-Faschismus. Tatsache sei, dass Weber offen mit antisemitischen Gedankengut sympathisierte und auch entsprechende Magazine mit Illustrationen versorgte (s. hierzu auch „Schriften der Erich Mühsam-Gesellschaft” Heft Nr. 18). Eine Haltung, die ihn seiner Meinung nach nicht als Illustrator von Büchern von Arno Schmidt qualifiziere. Leider musste diese Diskussion abgebrochen werden, da der enge Zeitplan des Tagungsprogramms sonst gesprengt worden wäre. Wünschenswert wäre hier noch einmal eine vertiefende Betrachtung des Themenkomplexes Weber/Schmidt auf einer der nächsten Tagungen und/oder im Schauerfeld.

Zum Schluss der Tagung bot das Programm den Teilnehmern einen weiteren Höhepunkt, für den alleine die Reise nach Heidelberg gelohnt hätte. Heiko Postma referierte aus seinem Buch „Und der Name des Stromes ist Zeit.“ über den viktorianischen Romancier Edward Bulwer-Lytton. Postmas Vortrag, der immer wieder durch mitreißend vorgetragene Auszüge aus dem Werk von Bulwer-Lytton gewürzt wurde, widmete sich jedoch nicht nur diesem Autor. Auch zu seinem deutschen Sachwalter Arno Schmidt und dessen Einsatz für Bulwer-Lytton lieferte er ausführliche Informationen. Mit Zitaten aus den Werken, des zu seiner Zeit in Deutschland meistgelesenen englischen Autors sorgte Postma immer wieder für Heiterkeit bei seinem Publikum. Postma zeigte, dass Bulwer-Lytton in diversen Genres firm war – ob’s um Okkultes ging (Zanoni) oder um Kriminelles (Nacht und Morgen), um Mondänes (Pelham) oder um unterirdisch Utopisches (Das kommende Geschlecht). Einen Höhepunkt seines Schaffens bilden zudem die großformatigen, brillant beobachteten, voll Witz und Humor dargebotenen englischen Gesellschafts-Panoramen der Caxton-Serie (etwa: Was wird er damit machen?). Neben Details über die Entstehung und Entwicklung der Werke, erfuhren Postmas Zuhörer Umfassendes aus dem privaten und politischen Leben des Autors. Für Postmas augenzwinkernd-humorvollen und höchst informativen Vortrag bedankte sich das gebannt lauschende Publikum mit großem Applaus. Und Rudi Schweikert fasste sicherlich mit seinem begeisterten Ausruf „Ach, wie schön ist Literatur“ die Meinung der Anwesenden aufs Trefflichste zusammen.

Text: Kersten Marunde