Tagungsbericht Frankfurt

Gaffende Kartoffelweiber, Ebbelwoi, Piporakemes und Calvados mit Mispel

Unterhaltung an der Stehbar: »Nee!« Das Goethehaus in Frankfurt besichtigen? auch da schüttelte er abfällig das Gekopf (unangenehm ‹rote Wangen›, nebenbei bemerkt): »So hat das nie ausgesehen! « (Da ich Goethe=Spezialist weder war noch jemals werden wollte, merkte ich mir keine seiner Ausstellungen; das kann dann mein Nachfolger in 100 Jahren machen – wenn’s einen Nachfolger gibt; wenn’s 100 Jahre gibt).

Freitag. 30. September
Bei strahlendem Sonnenschein eröffnete Dieter Noering um 17 Uhr die offene Mitgliederversammlung der GASL im Internationalen Begegnungszentrum der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Genauer gesagt in den stilvoll ausgestatteten Räumen der repräsentativen Cahn-Villa gegenüber dem schönen Palmengarten.

Abweichend von der bisherigen Routine der Mitgliederversammlungen erlaubte sich Dieter Noering einen kurzen Rückblick auf die letzten 25 Jahre der Vereinsarbeit. 25 Jahre in der die GASL als wahrer Wanderzirkus auf den Spuren von Arno Schmidt die gesamte Republik erkundet und bereist habe. Und dabei noch die Zeit gefunden habe, mit ihrer wissenschaftlichen und literarischen Arbeit  das Werk von Arno Schmidt zu fördern und für neue Leser zugänglich zu machen. Die Zahlen, Daten und Fakten sind tatsächlich beindruckend. Insgesamt sind in dieser Zeit 22 Jahrbücher mit 259 kunterbunten Aufsätzen erschienen, 9 Bände der Schriftenreihe wurden herausgegeben, 76 Ausgaben der Vereinszeitschrift „Schauerfeld“ und 61 Rundbriefe wurden an die Mitglieder versandt, 3.080 Briefe verschickte der Vorstand an interessierte Leser und ca. 35.000 Postausgänge der unterschiedlichster Art konnten vermerkt werden. Nicht zu vergessen natürlich die Organisation und Durchführung der Jahrestagungen, diverser Sondertermine – und Veranstaltungen.

Dietmar Noering berichtete zu den einzelnen Projekten der GASL. Jahrbuch, Schriftenreihe und Schauerfeld erschienen planmäßig und im vollen Umfang. Lediglich Zettelkasten 27 (Heidelberg) konnte leider noch nicht erscheinen, da Rudi Schweikert aufgrund anderer beruflicher Projekte nicht die Zeit gefunden hat die Arbeiten abzuschliessen. Auch die Internetpräsenz der GASL, verzeichnet weiterhin einen hohen Traffic.. Insbesondere werden die hohe Aktualität und die vielen Veranstaltungshinweise von den Nutzern gelobt. Als besonders erfreulich wurde vermerkt, dass endlich bei der Suche nach dem Begriff GASL in Google, unsere Gesellschaft „Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Leber (German Association of the Study of the Liver, GASL)“ vom ersten Platz verdrängt hat. Ein schöner Erfolg, der am späteren Abend mit einigen leberanregenden Getränken gefeiert wurde.

Die Tagung 2012 in Nienburg an der Weser soll vom 5. bis 7. Oktober gemeinsam mit der Heinrich-Albert-Oppermann-Gesellschaft durchgeführt werden. Als besonderen Höhepunkt konnte Ulrich Schuch bereits verkünden, dass im Rahmen der Tagung eine Lesung von Heiko Postma (s.a. Bericht Jahrestagung GASL Heidelberg) stattfinden wird. Leider kann aus organisatorischen Gründen im Jahr 2013 die geplante Tagung in Frankfurt an der Oder nicht stattfinden, so dass zurzeit Bayreuth und Bamberg zur Diskussion stehen. 2014 wird die Jahrestagung anlässlich des 100. Geburtstag von Arno Schmidt natürlich in Hamburg stattfinden.

Die an die Mitgliederversammlung anschließende Lesung von  Henning Westphal war eine schöne Einstimmung für die nächsten beiden Tage. Westphal las aus den Stürenburg-Geschichten und den Erzählungen aus der Inselstraße und verwandelte die so oft gelesenen  Worte in neuen Klang und liess die entsprechenden Bilder im Kopf der Zuhörer entstehen.

Samstag, 2. Oktober
Aam nächsten Tag startete das Programm mit Ralf Simon, Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Sein Vortrag über die „Theorie des Übersetzens, ausgehend von Arno Schmidt: Piporakemes“ verlangte von den Anwesenden höchste Konzentration und wahres Einfühlvermögen. Was für Schlüsse hierbei Simon aus dem Besuch des englischen Literaturprofessors Dr. Mac Intosh in „Piporakemes“ zog, war wahrlich atemberaubend. Wer das Stück bis jetzt nur unter dem Aspekt der (angeblich misslungenen) Übersetzung Schmidts von William Faulkners NEW ORLEANS gelesen hatte und sich über den grundstücksumspannenden Maschenzaundraht amüsierte, wurde Besseren belehrt. In einem einstündigen Parforce-Ritt jagte er durch das mittlere Werk Arno Schmidts, streifte u.a. die Etymtheorie, den Antagonismus von Eros und Todessehnsucht, die Poetik des Plagiats, das Poem der Kinderlosigkeit und endete mit der These „jede Übersetzung reinigt die Sprache.“

Hiernach hatte Dieter Noering die große Freude wieder einmal Susanne Fischer von der Arno Schmidt-Stiftung als Referentin auf einer GASL-Tagung begrüßen zu können. Nach der erfolgreich abgeschlossen Arbeit an dem soeben erschienen Tagebuch 1956 von Alice Schmidt, berichtete sie unter dem Titel  “Kartoffelweiber gafften von den Äckern”, über Arno und Alice Schmidt Jahre in Cordingen 1945 bis 1950. Als Grundlage hierzu diente das seit 1948 geführte Tagebuch von Alice Schmidt, in dem das gemeinsame Leben des Schriftstellerehepaar in dem Mühlenhof geschildert wird. Susanne Fischer ging in ihrem Referat insbesondere der Frage „Wie lebten sie damals? nach. Kurz gesagt, kann das Tagebuch als „Dokumentation der Armut“ begriffen werden. Alice Schmidts Schilderungen beschreiben die elenden Lebensbedingungen der Schmidts in der damaligen Zeit und die teilweise absurden Strategien diese Armut zu kaschieren. Die Schilderung der Zubereitung einer „Kartoffelkrümmeltorte“ durch Alice Schmidt oder die aus Geldnot geborene Verwendung von Hoffmans Tropfen als Schnapsersatz führten trotzdem zu Heiterkeit beim Publikum. Ebenso belächelt wurde die akribische Aufführung von Diebesgut, dass die Schmidt bei ihren Spaziergängen in Cordingen erbeuteten, u.a. eine Flasche Cola oder 1.000 Stück Schreibmaschinenpapier aus dem Gemeindeamt. Denn nur durch das Sammeln von Pilzen war der Lebensunterhalt nicht zu sichern und Higlights wie ein Frühstück mit Steinhäger und Gehacktem waren aus den normalen Einnahmen leider viel zu selten zu finanzieren. Hierbei ist zu beachten, dass die monatlichen Einnahmen der Schmidts im Jahr 1949 bei 60.- DM lagen, die aus einem Vertrag mit Rowohlt stammten. Finanzielle größere Einnahmen, wie z.B. für einen Aufnahmetermin beim Sender Hamburg in Höhe von 450.- DM waren die seltene Ausnahme. Trotzdem konstatierte Susanne Fische für die damalige Zeit dem Ehepaar Schmidt „moralische Unbekümmertheit“ und Arno Schmidt die Haltung eines Lebenskünstlers, dessen Hauptarbeit die Fouque-Biographie darstellte, die er aber ruhig einmal am Nachmittag begann. Denn auch die unbeschwerten Stunden wollte genossen werden, die Wälder lockten für Tandemtouren, die Wohnung mußte verschönert werden und so konnte damals noch der Schreibtisch auf ihn warten. Die wirkliche schriftstellerische Arbeit begann dann erst im Jahr 1950 mit „Brands Heide“ und der Anschaffung der ersten Schreibmaschine Juni 1950. Zum Abschluss las Frau Fischer Arnos Schmidts humorvolles, unveröffentlichtes Poem „Anläßlich der Öffnung eines Care-Paketes“.

Auch der nächste Programmpunkt beschäftigte sich mit den Tagebüchern von Alice Schmidt. “Arno Schmidt schreitet stumm wie ein Gott neben mir…”, unter diesem Titel lasen Dagmar und Karlheinz Müller aus Darmstadt, aus den Tagebüchern von Alice Schmidt für die Jahre 1954 und 1955. Der Versuch der Annäherung an Arno Schmidt und seine Zeit in Darmstadt über die Tagebucheintragungen gelang hervorragend und speziell die Darmstädter Sicht der beiden Vortragenden bei der Auswahl überzeugte. Festzuhalten bleibt aber, dass  Arno Schmidt eher unfreiwillig im Jahr 1954 nach Darmstadt in die Inselstraße 42 umzog und sich trotz der finanziellen Unterstützung der Stadt sich in Darmstadt unwohl fühlte. Über das Wetter, die Nachbarn und den Lärm klagte er. Auch die häufigen Besuche von Kollegen, Journalisten und Lesern störten den an ruhige Arbeit gewöhnten Schmidt. In den drei Darmstädter Jahren entstanden deshalb vorwiegend kurze Texte, mit Ausnahme des Romans „Die Gelehrtenrepublik“.

Der Nachmittag des Tages stand zur freien Verfügung und wurde bei schönstem Herbstwetter in den Museen des Museumsufers, bei Bootstouren auf dem Main und der Besichtigung diverser Hochhäuser verbracht. Zum gemeinsamen Abendessen fand man sich dann in der traditionellen Apfelweinwirtschaft ADOLF WAGNER in Sachsenhausen wieder zusammen. Ausgelöst durch die Vorträge des Tages und befeuert durch den exzellenten Ebbelwoi, war ein Schwerpunkt der Gespräche, die Frage, inwieweit die These des „kontrollierten Trinkens“ von Arno Schmidt auch in der heutigen Zeit noch von Relevanz ist. Die anschließenden, unbegleiteten Selbstversuche u.a. unter Zuhilfenahme von Calvados mit Mispel konnten jedenfalls erfolgreich und zur vollen Zufriedenheit der Anwesenden abgeschlossen werden.

Sontag, 3. Oktober
Tina Grahl, Studentin und wissenschaftliche Hilfskraft an der Karlsruher Univiversität hat bereits eine Masterarbeit zu den „Berechnungen“ veröffentlicht und stellte ihren Vortag unter das Thema „Arno Schmidts unvollendete Träume“. Ausgehend von den Abbildungen der Traumbilder bei Arno Schmidt und ihren Untersuchungen zu den „Berechnungen“ stellte sie die Frage, warum sich Schmidt nicht dem „Traum“ – bis auf diverse Szenen in Kaff – verschrieben habe. Ihre These, dass Schmidt keine Träume schreiben bzw. beschreiben könne, da er nicht auf seinen dominanten Ich-Erzähler verzichten könne, traf auf Widerspruch und führte zu intensiven Diskussionen.

Einen anderen Ansatz zur Interpretation des Werkes von Arno Schmidt wählte Lennart Oberman von der Philipps-Universität in Marburg mit seinem Vortrag „Krieg und Eroberung. Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas aus postkolonialer Sicht“. Postcolonial Studies beschäftigen sich im weitesten Sinne mit der Geschichte des Kolonialismus und dessen Fortwirken in der Gegenwart. Wichtig ist hierbei die für den Kolonialismus konstitutive Konstruktion des »Orients« durch »westliche« Diskurse, insbesondere innerhalb der europäischen Literatur. Ausgehend von den Werken zu dem Themenkomplex „Postcolonial Studies“ von Edward Saids, Homi K. Bhabha und Gayatri C. Spivak versuchte Oberman die Allgegenwärtigkeit des Krieges und der Kolonialisierung in der „Pocahontas“ zu veranschaulichen und gleichzeitig die immer wieder auftretende auftretende Slawophobie von Schmidt aufzuzeigen. Selma beispielsweise wäre für den Erzähler nur eine Landschaft, die es zu erobern und zu unterwerfen gilt. Die Sprache der „Pocahontas“ durchziehen aus seiner Sicht Metaphern von Krieg und Kolonialismus und nur durch die Umbenennung von Selma in Pocahontas wird sie für den Erzähler begehrenswert.

Der sich anschließende Vortag von Peter Aufmuth: “…über die Fläche des Zeitstromes dahinschweifen”. Arno Schmidt, J.W. Dunne und die Form der Zeit“ forderte dann wieder alle Synapsen. Unterhaltsam, anschaulich und äußerst humorvoll nahm Aufmuth die Anwesenden auf eine Reise durch die Welt der Zeit und der Träume mit. Ob Wahrträume, erfüllte Träume, wie z.B. Schmidts Träume von neuen Care-Paketen, Exkurse zu Vergangenheit und Zukunft, Hellseherei, Zeit als Zahlengerade und die „Ableitung der Theorie der Unsterblichkeit – es gab kein Thema in diesem Komplex auf dem Aufmuth in seinem 45-minutigen Vortrag nicht brillierte. Für mich persönlich konnte ich die Überzeugung mitnehmen “ Wir sind alle nur Quantenschaum!!“.

Das Abschlussreferat übernahm Dieter Noering mit „Paul Jacobi. Vom Schrecken der Gewöhnlichkeit“ sezierte er in  die letzte von ihm noch nicht betrachteten Person aus „Zettels Traum“. Mit dem Ansatz, alle Personen als Wirklichkeit zu sehen, näherte er sich der Person Paul Jacobi aus drei Perspektiven. Paul als Übersetzer, Paul als Ehemann und Paul als Liebhaber. Durchgehend ist Paul Jacobi als gescheiterte Person zu sehen, der als Ehemann und Übersetzer versagt, ein Pantoffelheld ist und finanziell nicht die Familie unterhalten kann. Dessen Flucht in den Alkohol  ihn nicht vor der Selbsterkenntnis seines Scheitern schützt. Auch die frustrierende Beschreibung seiner moralisch nicht tragbaren Beziehung – mit der am Anfang erst  neunjährigen – Christa, kann nicht verschleiern, dass er Sexualität nur noch als Last empfindet. Was ihm geblieben ist, ist die Männerfreundschaft zu Daniel Pagenstecher und seine permanente Entschuldigung, dass die NS-Zeit an all seinem Unglück schuld gewesen sei. Bei aller Kritik an Paul Jacobi, vermittelte  Noering bei den Teilnehmern doch ein teilnahmsvolles und verständnisvolles Bild dieser zerrissenen Persönlichkeit.

Kersten Marunde