15. Jahrestagung

Vom 27.–29.Oktober 2000 fand in Lilienthal bei Bremen die 15. Jahrestagung der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser e.V. (GASL) statt.

Tagungsleitung und verantwortlich für das wissenschaftliche Vortragsprogramm: Dr. Thomas Körber.

Der kleine Ort Lilienthal bei Bremen spielt in Arno Schmidts Werk eine besondere Rolle, hier sollte sein lebenslang geplanter Roman »Lilienthal 1801 oder Die Astronmen« spielen, in dessem Mittelpunkt die Sternwarte von Johann Hieronymus Schroeter in Lilienthal stehen sollte. Die erhaltenen Fragmente und Notizen zum Roman wurden 1996 von der Arno Schmidt Stiftung als »Arno Schmidts Lilienthal 1801, oder Die Astronomen. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans« veröffentlicht. Dort finden sich auch ausführliche Erläuterungen zur Bedeutung des Romanprojekts für Arno Schmidt.

Die Mitgliederversammlung

>Der Vorsitzende der GASL, Herr Noering, begrüßte die Mitglieder des Vereins und die Gäste, unter denen sich auch die Lilienthaler Bürgermeisterin, Frau Monica Röhr und Herr Leue vom Astronomischen Arbeitskreis Lilienthal befanden.

Frau Röhr ging in ihrer Rede auf das jeweilige Verhältnis von J. H. Schroeter und Arno Schmidt zur Astronomie ein; nach einem Exkurs zur Geschichte und Gegenwart Lilienthals wies sie darauf hin, daß auf der letzten Gemeinderats-Sitzung die Benennung einer neuen Straße nach Arno Schmidt beschlossen wurde, »von da an wird Arno Schmidt in Lilienthal immer präsent sein«.

In der anschließenden Mitgliederversammlung wurde u. a. ein neuer Vorstand der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser gewählt:

  • Dietmar Noering (Vorsitzender)
  • Karl-Heinz Müther (stellvertretender Vorsitzender)
  • Dr. Peter Aufmuth (stellvertretender Vorsitzender)
  • Dr. Ulrich Schuch (Schriftführer)
  • Marius Fränzel (Schatzmeister)

Lesung

Am Freitagabend lasen Bernd Rauschenbach (links) und Joachim Kersten aus dem lange geplanten, aber nie ausgeführten Roman von Arno Schmidt »Lilienthal 1801 oder Die Astronomen«. Zettelkästen-Inhalte und sonstige erhaltene Materialien zu diesem Projekt wurden vor einigen Jahren in einem Buch mit dem genannten Titel zusammengeführt.

Die Vorträge (in zeitlicher Reihenfolge)

Die Zusammenfassungen wurden freundlicherweise von den Referenten zur Verfügung gestellt.

Giesbert Damaschke

Schmidt und die Schreibmaschine. Notizen zum Aufschreiben.
Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die Typoskriptform der späten Texte Schmidts nur ein akzidentielles Element ist und der dokumentierte Wille des Autors, auch das Werk ab »Zettel’s Traum« im sauber gebändigten Blocksatz zu sehen, ohne Verlust der ästhetischen Integrität der Werke nach dem Tod ihres Verfassers (und damit auch ohne jede mögliche Korrekturlesung) erfüllt werden kann – oder ob die offene, heillose Form der Texte mit ihren Schwärzungen, handschriftlichen Korrekturen, eingeflickten Zetteln und Bildern, stehen gebliebener Satzanweisungen und ähnlichen handfesten Spuren und Wunden der schreibenden Schöpferarbeit nicht vielmehr essentiell zum Werk gehört und die Erscheinungsform als genuin ästhetisches Merkmal des Spätwerks respektiert werden muß. Da Schmidt spätestens nach Abschluß von »Zettel’s Traum« gewußt hat, daß seine Texte nicht mehr als gesetztes Buch erscheinen und von keinem Lektor mehr gelesen würden, ist die Überlegung, daß dieses Wissen des Autors die Gestalt der »Schule der Atheisten«, »Abend mit Goldrand« und der »Julia« mitbestimmt haben könnte, nicht allzu abseitig. Am Horizont wird die These gewagt, gerade in der Maschinenschrift erfülle sich gewissermaßen das »Projekt ICH«, als das sich das Gesamtwerk begreifen läßt.

Uwe Schwagmeier

»Papyrne Wendungen«. Triviale Erotik / erotische Trivialitäten: Henry Rider Haggard in/und Arno Schmidts »Julia, oder Die Gemälde«
Erotische Momente enthält das Werk Arno Schmidts in nicht geringem Ausmaß und mehr als eine bloße Tendenz zum baren Sexuellen, ist in seinem Spätwerk zu verzeichnen. Auch nimmt in dieser Richtung seine Neigung zu Autoren-Kollegen zu, die die Literaturgeschichtsschreibung vielfach gerne schon abgestempelt gesehen hätte: Hier kommt Schmidts letztem, Fragment gebliebenen Werk »Julia, oder die Gemälde« eine besondere Stellung zu, da in seinem Focus besonders auffällige Reihungen solcher ›trivialliterarischer‹ Ahnen stehen. Der Vortrag versucht eine Neubewertung von Schmidts Nachlaßtext als ›Text der Wollust‹ (Roland Barthes), indem beide genannten Elemente unter einem Begriff aus der Tradition der sogenannten Trivialliteratur, dem der Pornographie, zusammengedacht werden und möchte »Julia, oder die Gemälde« im Jahr 1979 als kulturellem Umbruchpunkt (Karl Heinz Bohrer) verorten. Beispielhaft wird dies anhand der Beziehungen zu Schmidts Referenzautor Henry Rider Haggard probiert.

Tobias Weller
Der »andere« politische Roman. Zur Wirkungsästhetik von Arno Schmidts »Gelehrtenrepublik«
Der Vortrag musste leider entfallen. Stattdessen wurde eine Aufnahme des Rundfunk-Features von Friedhelm Rathjen vorgespielt, welches Arno Schmidts Bemühungen um eine Küster-Stelle in Sankt Jürgen zum Thema hatte.

Gregor Strick

Ich und Goethe oder Wie Arno Schmidt sich als Klassiker konstruiert
Es ist das Lebensprojekt Arno Schmidts, zum Klassiker zu werden. Die Idee der Klassizität durchdringt seine erzählerischen Gestaltungen und seine poetologischen Erörterungen. Schmidt konstruiert und inszeniert sich über seine Werke als erstrangiger Klassiker in spe. Daher ist eine »Kraftprobe« mit Johann Wolfgang von Goethe, der die Spitze des Kanons besetzt, unumgänglich. Analysiert werden die Strategien, die Schmidt im Umgang mit Goethe wie im Umgang mit dem Publikum anwendet. Es soll gezeigt werden, daß diese Strategien summa summarum daraufhin angelegt sind, den ›Mythos Schmidt‹ auf den Weg zu bringen.

Friedhelm Rathjen

Woher die Kindsbraut kommt. Eine Winzigkeit zu einem Begriff Arno Schmidts
Michael Wetzel geht in seinen einschlägigen Veröffentlichungen davon aus, daß der Begriff der »Kindsbraut« erstens von Arno Schmidt in »Zettel’s Traum« in die deutsche Literatur eingeführt wurde und zweitens eine Schmidtsche Übersetzung des Begriffs der »Child-wife« aus Dickens› »David Copperfield« ist. Beides läßt sich anzweifeln; Schmidt hat den Begriff bereits wesentlich früher benutzt, und neben Dickens sind als Anreger sowohl der ähnlich klingende Begriff »Windsbraut« als auch das Werk von Bulwer-Lytton namhaft zu machen.

Marius Fränzel

»Als irrten wir durch den Orionnebel«. Astronomisches im Werk Arno Schmidts
Am Anfang von Arno Schmidts erzählerischem Werke steht mit »Leviathan oder Die beste der Welten« eine Erzählung, deren Zentrum ein kosmologisch-metaphysisches Weltmodell bildet, das wesentlich auf ein dynamisches physikalisch-kosmologisches Modell des Universums zurückgreift, wie es im Lauf der zwanziger Jahre entwickelt wurde. Vermutlich hat Schmidt dieses Modell in den Gesprächen mit seinem Greiffenberger Vorgesetzten Johannes Schmidt kennengelernt. Doch bleibt eine solche zentrale Stellung astronomischer Theorien bei Schmidt die Ausnahme. Wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt, zeugen Schmidts vereinzelte essayistische Darstellungen astronomischer Sachverhalte zumeist weit eher von einer flüchtigen und nur oberflächlichen Kenntnisnahme als von einer intensiven Beschäftigung mit ihnen. Dennoch muß Schmidt vorgehabt haben, in dem nicht ausgeführten Roman »Lilienthal 1801, oder Die Astronomen« die Astronomie des beginnenden 19. Jahrhunderts zusammen mit der Französischen Revolution in den Mittelpunkt eines gewaltigen Gesprächsromans zu stellen.

Die Exkursion

Am Samstagnachmittag wurde ein gemeinsamer Busausflug zur Kirche St. Jürgen unternommen, wo sich Arno Schmidt Ende der fünfziger Jahre (vergeblich) um eine Küsterstelle beworben hatte. Die heutige Küsterin, Frau Maike Windhorst, berichtete über die Geschichte der Kirche und Details jener Bewerbung, wobei sie das Original eines Briefes von Schmidt zeigen konnte, welches sich heute im Pfarrarchiv befindet. Es existiert darüber hinaus ein weiterer Briefwechsel mit dem damaligen Pastor Köppe, der jetzt in der Nähe Bargfelds wohnt. – Da die Glocken, welche zu läuten auch auf dem Dienstplan Arno Schmidts gestanden hätte, nur zu liturgischen Anlässen erklingen, bekam man sie leider nicht zu hören.

Literatur & Links

Weiterführende Literatur und Links zu Lilienthal, Schroeter und ihre Bedeutung für Arno Schmidt.

Arno Schmidts »Lilienthal 1801, oder Die Astronomen«. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans. Unter Mitarbeit von Susanne Fischer herausgegeben von Bernd Rauschenbach. Bargfeld: Arno Schmidt Stiftung, 1996. – Neben den erhaltenen Notizen, Fragmenten und Zetteln Arno Schmidts zum Lilienthal-Projekt bietet die Ausgabe in der »Chronologie einer Nicht-Entstehung« die Spuren des geplanten Romans »im Werk, in Briefen und in Tagebüchern«.

»Lilienthal oder die Astronomen«. Historische Materialien zu einem Projekt Arno Schmidt. Hg. v. Jörg Drews und Heinrich Schwier. München: Edition Text und Kritik, 1984. [= Sonderlieferung des Bargfelder Boten.] – Der Band versammelt verschiedene Dokumente zu Lilienthal und Schroeter.

Webseite der Gemeinde Lilienthal
Astronomische Vereinigung Lilienthal